(Lesezeit 4 Minuten) Der 20. Juli darf nicht ein Tag wie jeder andere werden. In diesem Jahr trägt dazu die leider ziemlich unhistorische Debatte darüber bei, ob Claus Schenk Graf von Stauffenberg „nur ein Attentäter“ gewesen sei, als er an jenem Sommertag 1944, Adolf Hitler in der Lagebaracke in der Wolfsschanze im damaligen Ostpreußen zu töten versuchte. Wenig spricht für diese einseitige Sicht; gut aber ist diese Auseinandersetzung allein schon deswegen, weil darüber Themen wie Mut, Zivilcourage, Gewissen und Glaube neuerlich in den Fokus kommen. Der 20. Juli war auch kein “Militärputsch”; denn die groe Mehrheit der Verschwörer waren Zivilisten.
Jede Generation beschäftigt sich auf ihre Art und Weise neu mit historischen Daten. Das ist gerade in unseren Zeiten besonders wichtig, weil rechte Populisten danach trachten, das Erbe des 20. Juli für sich zu stehlen. Dabei tun sie so, als seien ihre vereinfachenden und nihilistischen Parolen in unserer Demokratie mit ihrer freien Meinungsäußerung eine Mutprobe. Ganz harmlos beginnt ihr Satz: „Man darf ja heute nicht mehr sagen …“, und dann folgen nationalistische, deutschfeindliche, antisemitische oder schlicht falsche Äußerungen, für die man sich einfach nur schämen müsste. Es gehört kein Mut dazu, eine törichte Meinung zu äußern. Im Internet bleibt man dafür sogar anonym. Im NS-Staat wurde dagegen verhaftet und wohlmöglich getötet, wer nicht mit dem Regime lügen wollte. Heute dagegen werden selbst populistische Lügner in Parlamente gewählt. Eine Debatte über den 20. Juli ist mithin auch ein Beitrag gegen die Lüge und früh historische Wahrheit – und darum dringender denn je. Denn es darf nie wieder so kommen wie zu NS-Zeiten.
Andererseits trägt die Konzentration auf dieses eine Datum und den Verschwörer aus Gewissensnot Stauffenberg dazu bei, von der Breite des Widerstandes gegen das NS-Regime und für einen Rechtsstaat abzulenken. Dabei wissen wir, dass sich mit dem 20. Juli ein Netz von mindestens 200 Frauen und Männer verbindet, die konkrete Pläne und Vorstellungen für die Operationen nach dem Tyrannenmord entwickelt hatten. Es war nicht „eine ganz kleine Clique“ reaktionärer Kräfte, wie es die Nazi-Propaganda – mit offenbar einigem Erfolg bis heute – zu drehen suchte. Dies Netz bestand auch nicht nur aus ein paar Offizieren. Dazu gehörten eben weit mehr zivile konservative Kreise, Frauen und Männer aus allen gesellschaftlichen Kreisen, Geistliche, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Kommunisten. Das Attentat hätte ja auch keinen Sinn gehabt, wenn sich die Verschwörer nicht zuvor der großen Mehrheiten in der Nation versichert hätten, um nach dem Tyrannenmord den Staat wieder aufbauen zu können.
Dabei standen freilich in der Diktatur, die nur konspirative Arbeit zwischen Individuen zuließ, einzelne Persönlichkeiten für gesellschaftlich Gruppen: Der frühere Bürgermeister von Leipzig Carl Goerdeler war am stärksten vernetzt und galt als Kopf des zivilen konservativen Widerstandes. Er solle Reichskanzler werden. Offiziere wie Erwin von Witzleben als höchstrangiger Verschwörer, Hans Oster oder Ludwig Beck waren Vorbilder für jene Soldaten, die es mit ihnen wagten, Hitler zu bekämpfen, obwohl sie auf ihn ihren Eid geschworen hatten. Julius Leber stand als früherer SPD-Reichstagsabgeordneter für die Sozialdemokratie; ihn hätten konservative Verschwörer wie Stauffenberg als Reichskanzler nach Hitler vorgezogen. Wilhelm Leuschner sollte die Gewerkschafter hinter sich scharen. Der Kreisauer Kreis um Helmuth James Graf von Moltke stand für einen Teil der politischen Planungen zum Staat nach dem Umsturz. Manche von ihnen wie der Verwaltungsjurist Hans von Dohnanyi gehörten schon zu Hitler-Opposition als andere noch zu seinen gehorsamen Anhängern gehörten. Freilich waren es doch wenige – gerade einmal 0,2 Prozent der Deutschen können zur aktiven Oppsotion gezählt werden.
Im Blick zurück bündelt sich alles auf den Hochsommertag am 20. Juli in der Wolfsschanze. Diese Perspektive aber verkürzt den Entwicklungsprozess im Deutschen Reich, in dem es von 1934 an Helden gab, die sich der Diktatur selbst als Einzeltäter widersetzen wollten: Einer war der Schreiner Georg Elser, der im November 1939 in München versuchte, Hitler und seine Clique im Bürgerbräukeller per Zeitbombe zu töten. Damals hatte der „Führer“ schon den Zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen. Schon 1935, also noch im Frieden, knüpfte Oster ein Netz des Widerstandes. Ein Umsturz während der Sudeten-Krise 1938 unterblieb dann aber, weil sich Großbritannien und Frankreich auf der Münchner Konferenz Hitlers Gebietsansprüchen auf das Sudetenland beugten. In dem darauffolgenden nationalen Triumph hätten sich die Massen nicht für einen neuen Staat nach Hitler gewinnen lassen. Die Umstürzler wären von der Nation als Vaterlandsverräter gesehen worden – wie selbst später noch trotz all der Kriegsverluste.
Im dann beginnenden Krieg aber wurde es immer schwerer, Hitler zu töten; denn es war fast unmöglich, an ihn heranzukommen, versteckte der Feigling sich doch zuletzt vor allem in der Bunkerhöhle der Wolfsschanze. Letztlich blieben mithin nur noch wenige übrig, die ihren Zugang zum innersten Zirkel für einen Anschlag nutzen konnten. So einer war eben Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der nicht zuletzt wegen seiner Kriegsverletzungen rasch Karriere gemacht hatte. Nur noch mit einem Auge und einem Arm sowie drei Fingern an der übrig gebliebenen Hand war er keineswegs der physisch ideale Attentäter. Vor allem aber hatte er eine zentrale Aufgabe im Netz der Verschwörer am Oberkommando des Heeres (OKH) im Bendlerblock. Er wurde in Berlin für die Operation nach dem Mord Hitlers dringend gebraucht, war er doch in seinen letzten Monaten zu einer treibenden Kraft des Staatsstreiches geworden.
Notgedrungen führte Stauffenberg selbst die Tat aus, um Hitlers Tyrannei zu überwinden. Nicht ins Blaue hinein. Immerhin gab es seiner Meinung nach, aber auch nach der Forschung der Historiker, eine gute Chance zum Erfolg: „fifty-fifty“ soll Stauffenberg seiner in die Anschlagspläne eingeweihten Frau gesagt haben. Wäre es Stauffenberg nur um die Tat als Tat gegangen, dann hätte er sich nicht so tief in die komplexen Vorbereitungen in dem Netzwerk der Verschwörer eingelassen. Schließlich wurde er auch nicht leichten Herzens zum Attentäter. Gewiss gehörte er in seiner Jugend zum Kreis um den Lyriker Stefan George, der von der Ästhetik der „heroischen Tat“ gesprochen hatte. Aber das war vor den bestialischen Untaten der NS-Zeit und deren Taten. Viele Jahre später bewegte Stauffenberg nach seinen Worten das überall den Staat zerstörende Unrecht, die totale Unmenschlichkeit der Diktatur, der rassen-ideologische Vernichtungswahn, die Misshandlung von Krieg- und anderen Gefangenen. Stauffenberg war zu Ende seines kurzen Lebens der gläubige Katholik mit dem goldenen Kreuz um den Hals, der noch einmal zur Beichte ging, bevor er für den Tyrannenmord zur Wolfsschanze flog; ein ernster und wohl von seinen früheren Ideen enttäuschter Ehemann und Vater, dem es darum ging, eine Vision menschlicher Zukunft zu schaffen, Liebe und Verantwortung in einer Zeit zu dokumentieren, in der die NS-Ideologie in jedes einzelne Leben und in jede Familie zerstörerisch eingriff.