(Lesezeit vier Minuten)
12.11. Durch 2 Zimmer hindurch hörten wir das Stöhnen und Röcheln
der alten Exzellenz Oldenburg, der Mutter von Frau v. Knoblauch, die
seit 2 Tagen an »seelischer Depression« leide, wie die Tochter sagt.
Eben sagt mir selbige Frau v. Knoblauch, dass ihre 92-jährige Mutter heute
Morgen gestorben sei. »Natürlich verhungert, sonst hätte sie noch glatt
20 Jahre gelebt.« 92 war die Dame schon!!! Ich habe der Tochter meine
Hilfe angeboten. Ein Telegramm an Verwandte in Berlin wurde ich auf
der Post nicht los, da diese nicht in der russ. Zone wohnen. So muss
ich morgen in Lichterfelde-West die Todesnachricht abgeben.
14.11. Frau v. Knoblauch, dieser Gemütsmensch, hat es nun fertig
gebracht, uns den Sarg mit der Leiche ihrer Mutter auf den Flur vor
den Garderobenständer aufzubauen. Am meisten sind unsere Flüchtlinge
darüber ungehalten, da sie alle Augenblicke an dem Sarg vorüber
gehen müssen, der ja direkt vor ihrer Türe steht. Angeblich nur bis
morgen!
Ich traf heute früh in der Stadt wieder mehrere aus dem Osten entlassene
Kriegsgefangene, ausgemergelte Gestalten. Bei dem Gedanken,
dass Burkard ähnlich aussehen könnte, krampft sich einem das Herz
zusammen, dazu jetzt noch die Kälte.
Heute Abend kam es zur Auseinandersetzung mit Frau v. Knoblauch
wegen der Leiche ihrer Mutter. Der Pfarrer in Bornstedt habe ihr
gesagt, sie habe ein Recht darauf, die Leiche in den von ihr gemieteten
Räumen aufzustellen. Der Sarg steht aber nicht in einem ihrer Zimmer
sondern auf dem Flur. Ich muss mich jedesmal, wenn ich meinen Hut
und Mantel aufhängen will, über den Sarg beugen u. stoße unabsichtlich
mit den Füßen dagegen. Wir sagten Frau v. K., dass das unmöglich
weiter so bleiben könnte, zumal der Flur warm ist; ich drohte ihr mit
der Gesundheitspolizei!
Frau v. K. hat sich nun noch »Informationen« bei der Bestattungsfirma
geholt und angeblich soll der Sarg morgen Vormittag nach dem
Bornstedter Friedhof überführt werden!
15.11. Um 9 Uhr kamen 2 Mann, um die Leiche von Exzellenz Oldenburg
nicht etwa zum Friedhof nach Bornstedt zu bringen, sondern in das geheizte
Wohn- und Schlafzimmer von Frau v. Knoblauch zu tragen, wo der
Sarg nun (wieder angeblich!!) bis morgen früh ½ 9 stehen bleiben soll.
16.11. In der Zeitung steht, dass durch die Bodenreform in der Mark
Brandenburg bisher 2246 Betriebe enteignet wurden!! 62.552 Familien
erhielten Land, rund 90 % dieser Betriebe wurden bereits aufgestellt.
Unter denen, die Land erhielten, befinden sich 15 828 Landarme,
29 836 Landlose, Landarbeiter und Handwerker und 16 888
Umsiedler! Wie sollen diese Leute, die kaum einen Spaten haben, ihre
20 Morgen bestellen und die Ernährung der Städte sicherstellen?! Die
Gesetzgeber werden noch ihr Wunder erleben.
Der Sarg mit der Leiche von Exzellenz Oldenburg steht immer
noch munter in unserer Wohnung und zwar im Wohnzimmer von der
Tochter dicht neben ihrem Bett an der Tür zu unserem Schlafzimmer,
in das der nicht gerade erfreuliche Geruch des Carbolineums dringt,
mit dem der Sarg gestrichen ist. Aber immer noch besser Carbolineumdüfte
als … Und in demselben Zimmer ruft alle halbe und volle Stunde
die Kuckucksuhr und stört nicht nur die Ruhe der Toten, sondern
auch unsere seit Monaten! »Zssseiten!«, sagte Hubertus!
Kurz vor dem Mittagessen erschien eine Dame aus Berlin und überbrachte
uns 3 Briefe von Erika und 1 von meinem Bruder. Dies sind die ersten direkten Nachrichten
von Erika, der ich sofort eingeschrieben beantwortete. Gottlob geht es
allen gut, und sie können sich eine neue Existenz aufbauen.
Angeblich soll morgen früh die Leiche aus dem Haus geschafft
werden Es wird aber auch Zeit.
17.11. Tatsächlich wurde heute früh der Sarg abgeholt und auf einen
Plattenwagen verladen, auf dem bereits 3 Särge standen, ein »Sammeltransport«.
aus dem Kriegstagebuch: Werner v Kieckebusch, “Ich traue dem Ferieden nicht” – Leben zwischen zwei Diktaturen, Tagebücher 1945 – 1946, Hrg. von Jörg Bremer, Herder-Verlag, Freiburg 2020
(jöb.)