(Lesezeit 7 Minuten) Rom schwitzt in diesen Sommertagen. Wer noch nicht an den Strand fahren konnte, keucht seine letzten Arbeitstage in der italienischen Hauptstadt ab. Auch die Abgeordneten und Senatoren arbeiten noch. Dabei streifen die Herren mit ihren weißen Hemden und Krawatten sowie die Frauen in leichter Seide in ihren Pausen auch rund um Parlament und Senat und nehmen irgendwo einen Kaffee zu sich. Wer dabei ihren Gesprächen lauscht, still und aufmerksam, hört stets dieselben Routinegeschichten wie bei vielen Regierungen zuvor: Wer wo am besten gerade einen Job bekommen sollte; welche Orientierung/Region der Bewegung noch nichts abbekommen habe. Und: Bei der Besetzung jenes Chefpostens müsse die Partei „hart bleiben“. Also alles wie stets nach der Bildung eines neuen Kabinetts!
Dabei sollte doch mit dieser rein populistischen Regierung – aus der nationalistischen Lega unter Matteo Salvini und der politisch weniger klar bestimmbaren „Bewegung 5 Sterne“ unter Luigi Di Maio – eine neue Zeit anbrechen. Vielleicht ist sie ja auch angebrochen; aber der Bürger spürt davon wenig und ist damit offenbar bisher noch zufrieden. 60 Prozent der Italiener stehen zu diesem Bündnis der politisch kaum zusammen passenden Partner. Aber wozu sie damit stehen, ist noch nicht auszumachen. Nur eines ist anders als früher: Mit Matteo Salvini als Innenminister und Vizeregierungschef hat Italien einen Trommler, der sich bis zum Nordpol vernehmen lässt. Geschickt nutzt der 45 Jahre alte Lombarde vage Ängste vor Überfremdung und heizt die Stimmung gegen Ausländer und Migranten an. Dabei sind die Zahlen der Menschen noch einmal deutlich gesunken, die über das Mittelmeer nach Italien kommen.
Das ist dem Innenminister bei seiner Propaganda offenbar ein Dorn im Auge; denn während sich die aktuellen Migrantenzahlen früher auf der Internetseite des Innenministeriums mit zwei Klicks öffnen ließen, muss man nun länger navigieren, um zu den Tatsachen vorzustoßen: mit 18 107 Migranten am 25. Juli 2018 sind es einen Monat über die Hälfte des Jahres hinaus 86 % weniger als 2016 und 2018. Bei einer besseren Integrationspolitik, einer effizienteren Eingliederung wären diese Ziffern kein Problem. Innenminister Salvini nutzt lieber das schlechte Gewissen der Europäer, die sich in den letzten Jahren darauf verlassen konnten, dass Italien zunächst einmal alle Migranten aufnimmt und darauf vertraute, dass ihnen später ein angemessener Teil davon wieder abgenommen werden würde. Schon immer hieß es in Rom, die Flüchtlinge wollten nicht nach Italien sondern nach Europa. Darum müsse Europa sie auch aufnehmen. Aber erst unter dem Druck von Innenminister Salvini gelingt das nun – teilweise. Nur weil andere EU-Länder wie Deutschland, Spanien oder Frankreich Migranten aufnehmen, die aus Libyen über das Mittelmeer nach Italien kamen, hält Salvini die italienischen Häfen offen.
Bei dieser Drohung der Hafenblockade bediente sich Salvini zunächst eines in anderen EU-Ländern nicht verstandenen Bluffs. Dreist verkündete er vor Wochen über Twitter, er schließe alle italienischen Häfen für dieses oder jenes Rettungsschiff. Tatsächlich zogen auch die Hilfsboote mit ihrer verzweifelten Menschenladung ab; dabei kann ein Innenminister dergleichen Hafenverbot nur in ganz speziellen Fällen aussprechen: beim Verdacht auf Terroristen und Waffen an Bord oder bei einer ansteckenden Krankheit der Passagiere darf er aktiv werden. Im Übrigen aber ist das Verkehrsressort zuständig. Ressortchef Danilo Toninelli aber gehört zu den „5 Sternen“, und der wollte die Häfen zunächst nicht schließen. Später knickte er unter dem populistischen Druck von Salvini ein; und auch Di Maio gab klein bei. Weiter gibt es aber kein generelles Hafenverbot; nur in jedem einzelnen Fall kann Minister Toninelli einem Schiff die Einfahrt versagen. Er tut das nun; und damit gibt er ein Beispiel dafür ab, wie die „Bewegung 5 Sterne“ im Schlepptau von Salvini segelt.
Salvini würde am liebsten sogar gegen die Verfassung agieren und auch italienischen Schiffen der Küstenwache und Marine die Heimkehr in die eigenen Häfen versagen, so sie denn Flüchtlinge an Bord haben. Doch wer von der italienischen Marine geborgen und aufgenommen wurde, hat bereits italienischen Boden betreten und muss an Land gelassen werden. Der Lega-Politiker will den Flüchtlingen in Libyen jeden Anreiz dafür nehmen, das Risiko einer Mittelmeerüberfahrt einzugehen. Mit den Tränen eines Krokodils bedauert er, wenn Menschen bei dem Versuch der Passage ertrinken: „Ich habe doch selbst zwei Kinder“, sagt er. Tatsächlich aber nimmt seit Salvinis Regierungsübernahme die bis dahin rückläufige Anzahl der Toten wieder zu. Es ist ihm offenbar egal, ob Kinder und Frauen im Mittelmeer ertrinken oder ob sie von Menschenschleppern in Libyen wie Sklaven gehalten werden.
Vor allem aber muss in seinen Augen das Problem von der Küste ferngehalten werden; es darf für Italiener nicht sichtbar sein; denn die reagieren – wie jetzt in Capo Rizzuto bei Crotone in Kalabrien – wie früher schon mit Herz und Verstand. Badende sahen dort am Dienstagmorgen unweit der Küste ein Segelboot, auf dem sich 56 Syrer mit sechs Frauen und elf Kindern von irgendwo in Richtung Europa aufgemacht hatten. Stolz erzählen die Badenden am Strand von der Rettung dieser Menschen. Die Hilfskräfte kamen schnell an den Landeplatz, und erstmals seit Wochen ist auch etwas von der Opposition zu hören. Der lokale Senator vom sozialdemokratischen PD, Ernesto Magorno, twitterte aus Crotone, es mache ihm Hoffnung, dass es in seiner Heimat noch Menschen mit Solidarität und Menschlichkeit gebe, die Migranten retten. (Ansonsten ist über den PD nichts zu sagen).
Tatsächlich war Italien immer ein offenes Land. Es ist ja auch kaum vorstellbar, wie man seine Küste gegen das Meer abriegeln könnte. In Italien heißt dieses Meer „Mare Nostrum“. Es war in der Geschichte stets mehr eine Verbindung als ein trennendes Wasser; das Römische Reich war an allen Küsten des Mittelmeeres zuhause, mithin aus römisch-italienischer Sicht “unser Meer“; und es gab überdies Kaiser aus Spanien in Rom und dort auch Päpste aus Afrika. Für die Vorväter war es stets leichter gewesen, im Schutz der Küste von Land zu Land zu segeln oder zu rudern, als über Land zu marschieren „Mare Nostrum“ hieß vor Jahren auch die erste allein italienische Rettungsaktion, bei der in viel höherer Anzahl Flüchtlinge ans italienische Ufer geholt wurden. Damals freilich winkten die Italiener die vielen tausend Menschen einfach nach Norden über den Brenner durch. Dagegen wehrte sich die EU; und half, um dies zu stoppen, nicht nur mit Geld sondern auch mit Kräften der Grenzschutzagentur Frontex. Doch das Versprechen, in angemessener Zahl Migranten aufzunehmen, erfüllte die EU nie. So sind Brüssel und die meisten EU-Staaten mit dafür verantwortlich, dass der Lega-Trommler Salvini so beliebt ist.
Die zweite Partei in der Koalition, die „5 Sterne“, hat es dagegen viel schwerer. Das liegt zum einen an dem unerfahrenen und politisch ungebildeten Chef Di Maio, der es mit jetzt 31 Jahren zwar schon zu seiner zweiten Legislaturperiode im Abgeordnetenhaus gebracht hat und nun wie Salvini auch Vize-Ministerpräsident ist. Aber wenn es um Zahlen und Prozente, um Wirtschaftsprobleme und Steuern geht, dann steht der Minister für Wirtschaftliche Entwicklung, Arbeits- und Sozialpolitik vor Rätseln. Schwer hat er es auch deswegen, weil er die Reformpolitik der früheren Regierungen von Matteo Renzi und Paolo Gentiloni zurückdrehen will, die doch einige Erfolge brachte, aber nicht genug, um die Bürger zu überzeugen. Di Maio will den Rechtsschutz für Arbeitnehmer wieder ausbauen und gefährdet dabei nach Meinung der Wirtschaft viele 10 000 Arbeitsplätze. Für Langzeitarbeitslose will er ein Grundeinkommen, das aber der tief in den Schulden steckende Staat nicht bezahlen kann.
Anders als Salvini, der in jedem Fall „Erfolg haben“ kann, weil das Flüchtlingsproblem bei diesen niedrigen Migrantenzahlen so begrenzt ist, dass er die Erwartungen der Bürger schon mit Anti-EU-Trommeln ausreichend bedient, muss Di Maio teure Versprechen umsetzen, gegen die der Finanzminister Giovanni Tria genauso Sturm läuft wie Staatschef Sergio Mattarella, die Wirtschaft und letztlich auch die EU mit ihren Schuldengrenzen. Überdies steckt die „Bewegung 5 Sterne“ in einem ideologischen Dilemma. Ihre Finanzier, der Internet-Unternehmer Davide Casaleggio, Sohn des Mitgründers, denkt in spätkommunistischen Kategorien staatlicher Einmischung. Überall sollen beim öffentlichen Rundfunk Rai wie bei der Kreditbank treue Parteigänger der Bewegung das Heft übernehmen, um dann dem Staat mehr Kontrolle einzuräumen. So wird seit Juni um jeden Chefposten in den größeren staatlichen oder halbstaatlichen Betrieben gewonnen. Das führt zu einer Wartehaltung, die sich zum Beispiel bei der italienischen Eisenbahngesellschaft Trenitalia bis zum mittleren Management hinunter lähmend auswirkt. Während die Regierung von Gentiloni noch nach dem besten Mann oder der besten Frau suchte, erinnert nun alles wieder an Silvio Berlusconis Zeiten. Geschacher in Hinterzimmern oder eben im Café.
Eine ideologische Last ist der Ursprung der „Bewegung 5 Sterne“, die zum Beispiel im Nordwesten Italiens dadurch stark wurde, dass sie die Höchstgeschwindigkeitstrasse für die Verbindung Lyon- Turin mit Demonstrationen und Gewalt an der Strecke im Susa-Tal zu verhindern suchte. Viele wählten im März die Sterne an die Regierung, damit die dieses Projekt endlich killt. Di Maio, der bei seinen verwegenen Projekten aber daran denken muss, wenigstens irgendwo wirtschaftliche Anreize zu schaffen, würde die Strecke lieber zu Ende bauen lassen. Denn das kommt noch hinzu: Würde das Projekt nun eingefroren, würden hohe Vertragsstrafen fällig; denn der Bau steht nicht am Anfang sondern mehr vor seiner Fertigstellung.
Zum Schluss noch einmal ein Wort über Migranten: Jeder Italiener weiß, dass die besten Pizzabäcker Ägypter sind. Und dass es viele Jobs gibt, die Italiener ungern machen, – zum Beispiel die lästige Arbeit in den Küchen hinter den Speisezimmern der Restaurants, – ist auch bekannt. Mittlerweile sieht man, wo Migranten der jüngsten Generation ihre Arbeitsplätze finden. Auf den großen Märkten in Rom oder Venedig, putzen diejenigen, die über das Meer nach Europa kamen, mittlerweile den frischen Fisch für den italienischen Haushalt. Und andere Beispiele: Im Schlepptau unseres Elektrikers ist seit jüngerer Zeit ein Syrer, der in Aleppo Maschinenbau studiert haben will; und einer von den Männern, die gerade vor unserem Haus die Kanalisation neu verlegen, stammt aus einem schwarzafrikanischen Land. Er kann schon ein bisschen Italienisch. Die Geburtsrate in Italien ist niedrig. Auch wenn es Salvini nicht will und die Bürger es noch nicht wahrhaben wollen – Italien braucht mehr Einwanderer.
Derzeit schwitzt Rom in der Sommerhitze. Im Spätherbst wird es war meteorologisch kühler sein, aber das politische Rom dürfte wohl weiter schwitzen. Dann nämlich wird um den Haushalt für das Jahr 2019 gerungen, und Di Maio und die übrigen Sterne müssen liefern, was sie den Bürgern bei den Wahlen im März versprachen; neben der Bürgerrente für Langzeitarbeitslose zum Beispiel Steuernachlässe bis zur flat tax. Die Lega dürfte wenig dafür tun, den Koalitionspartner zu helfen. In Rom heißt es, Salvini käme der Bruch der Regierung gerade recht. Er wünsche sich Neuwahlen im Frühjahr. Nach den Umfragen jetzt wäre Salvini ein Triumph gewiss. jöb.