Der gebremste Besteller aus Warschau – Marcel Reich Ranicki und Andrzej Szczypiorski –

(Lesedauer 5 Minuten) In diesen Tagen wird an den großen Literaturkritiker Marcel Reich Ranicki erinnert, der am 2. Juni 100 Jahre alt geworden wäre. Die FAZ, bei der er die meisten Jahre seines Berufslebens die Literatur-Redaktion leitete, war voll von Würdigungen. Viele haben ihn wegen seiner Loblieder und Verrisse noch lebhaft in Erinnerung. MRR liebte leidenschaftlich die Literarur und jedes – nach seiner Meinung – “faule Stück Prosa” ekelte ihn quasi körperlich an. Im Literarischen Quartett im Fernsehen war MRR nicht nur eine Instiution unter den anderen Kritikern; er verwandelte “Worte, Worte, Worte” in spannende Unterhaltung. Schriftsteller und Dichter wurden lebendig, und manchmal hat man heute den Eindruck, es gebe gar keine Literatur mehr – dabei fehlt nur MRR.

Ich hatte im Verlaufe meiner polnischen FAZ-Jahre 1981 bis 1986 nicht viel Kontakt mit MRR. Ich musste ja Politik machen, und nicht zuletzt belieferte Karl Dedecius die FAZ mit Polnischem. MRR war zudem weniger an der polnischen Literatur interessiert als seine Frau Teofila; was jeder wusste. MRR liebte deutsche Literatur.

Damals in Polen freundete ich mich natürlich mit den Kulturgrößen jeder Jahre an. Andrzej Waida oder Jacek Kuron, Wladylaw Bartoszewski oder Jerzy Holzer, für dessen Buch „Solidarnosc“ (KRAG, 1983) ich die illegalen Flugblätter der Gewerkschaft (bei den Sektoren Kunst und Wissenschaft in Warschau) in den Westen schmuggelte. Mein bester Freund aber wurde Andrzej Szczypiorski. Ich habe ihn oft in seiner großen Wohnung zum Tee besucht, wo freilich Katzen das Regiment führten. Und ich kann mich auch noch an den einen Besuch zusammen mit Christiane erinnern, bei dem er besonders viel rauchte und – bei edlem französischen Cognak – seine Sorgen über den Gesundheitszustand seiner Frau äußerte. Die lag damals nämlich – auch Raucherin – mit Krebs in einer Klinik in Wien. Nicht zuletzt deswegen war AS in Geldnot. Andererseits war in Polen gerade sein wunderbares Buch „Poczatek“ (“Anfang”, Przedswit, 1986) erschienen. Mein Polnisch war damals so, dass sich darin lesen und ziemlich schnell verstehen konnte, dass das ein wichtiges Buch auch für Deutsche sein müsste.

AS hatte natürlich auch ein großes Interesse daran, in Westdeutschland übersetzt und gedruckt zu werden. Noch kannte man auf Deutsch nur seine „Messe für die Stadt Arras“, die aber 1971 „nur“ in der Evangelischen Verlagsanstalt in Ost-Berlin erschienen war. Also erbot ich mich, den großen unnahbaren MRR mit den Texten von AS zu versorgen. Später wurde AS einer der wichtigsten politischen Kulturkommentatoren unserer Zeitung. Aber mit diesem ersten Buch war das gar nicht so einfach.
Denn MRR, der später die „schöne Frau Seidenmann“ in den Himmel hob, rührte sich erst einmal nicht, nachdem ich ihn mit den Texten bertraut gemacht hatte. Ich war damals gerade von Warschau nach Hannover gewechselt, wo ich einen Brief von AS erhielt: „Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie fragen in FAZ was ist geschehen mit meinen Texten? Ich habe keine Nachricht bekommen? Liegen schon diese Texte im Korb?“ AS schrieb auf Deutsch. Weil ich ihm auf Polnisch zu schreiben hatte. Ich frug in Frankfurt nach, MMR reagierte…und bald darauf lief alles ganz schnell. Diogenes druckte 1988 einen Bestseller.
MRR ist später niemals darauf zu sprechen gekommen, dass ich ihm den Weg zu Andrzej geöffnet hatte. Die beiden hatten sich zuvor nicht gekannt. Andrzej wurde nun zur Erfindung von MRR.
Später ist übrigens Szczypiorski auch für eine Lesung in unserer Wohnung in Hannover gewesen, an der nicht zuletzt der damalige niedersächsische Ministerpräsidenten Ernst Albrecht teilnahm. Schon 2000 ist AS dann gestorben. Er wollte uns noch in Israel besuchen, aber das gelang nicht mehr. Wohl erinnere ich mich noch an seinen Satz: „Sie werden sich in Israel sehr wohl fühlen. Die sind da ähnlich kompliziert wie wir Polen.“