Ein Ostern des Darbens und Wartens in Potsdam 1946

Werner und Anneliese (A) v. Kieckebusch verbringen in Potsdam ein unruhiges und karges Osterfest 1946. Noch immer warten sie auf die Rückkehr ihres jüngsten Sohnes, den sie seit einem Jahr vermissen. Burkard war noch kurz vor Kriegsschluss eingezogen worden. Der ältere Sohn Hubertus fiel. Sie leben in der „Mausfalle“, einer Sackgasse der Jägerallee in Potsdam, die relativ ungestört durch den Krieg kam. Aber Hunger und Ängste gehen um. Vater Kieckebusch ist zur Zwangsarbeit eingezogen.

 

 

19.4. Karfreitag!

Ausgerechnet heute eine Sonderaktion! Urbarmachung von mehreren Morgen Kartoffel- und Gartenland! Wo wird nicht gesagt, der Einsatz von 8 bis 14 Uhr, also 6 Stunden. Wer da

wohl kommen wird!

Am Vormittag waren wir auf dem Neuen Friedhof und brachten die beiden Holzkreuze für Tante Melly und Erna Schwerin auf ihre Gräber. Zu Hause mussten wir dann leider feststellen, dass wir sie an falsche Stellen eingebuddelt hatten, so dass ich nochmal auf den Friedhof fahren muss. Wir hatten uns damals gemerkt, dass zu Häupten von

Tante Ernas Grab an der Friedhofsmauer eine größere Birke stand, die inzwischen natürlich längst geklaut wurde.

 

20.4.

Heute vor einem Jahr wurde unser geliebter Junge (Burkard) zum letzten Male gesehen! Wo mag er jetzt sein und lebt er noch? Diese Ungewissheit ist zu schrecklich.

In der Stadt ist Aufregung darüber, dass die Räume der Städt.

Sparkasse in der Hohenzollernstr. im Gebäude der Friedensgemeinde

bis heute Abend geräumt sein müssen, um eine russ. Tanzbar einzurichten.

Das schöne Potsdam wird immer russischer. Vor No.38 unserer

Mausefalle sind jetzt rechts u. links vom Eingang mit Mauersteinen eingefasste Beete angelegt, 2 große Sowjetsterne.

 

Gestern jubilierte Ganz Potsdam über den endlich mal einsichtigen

Oberbürgermeister, der pro Kopf zu Ostern 5 Pfund Kartoffeln bewilligte.

Heute steht nun die bisher verheimlichte Kehrseite der Medaille

in der Zeitung: »Diese fünf Pfund werden für den Monat Juni in

Anrechnung gebracht.« Jetzt haben wir April!

 

Die neue Potsdamer Zeitung »Der Märker« hat heute ihren Namen

gewechselt, weil sie wohl zu sehr unparteiisch klang, jetzt: »Märkische

Volksstimme, Organ der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands«!

Auf der Ersten Seite steht die Aufforderung: Ein jedes Haus am 1. Mai

1946 prangt in den Zeichen des Lebens über Tod und Vernichtung.

Deshalb: Rote Fahnen heraus!

 

21.4.

Um 10 war im Gottesdienst in der Friedenskirche die Einführung und Verpflichtung des neuen Gemeindekirchenrats, sehr hübsch und feierlich, nach einer besonders guten Osterpredigt. Anschließend an den Gottesdienst war eine »spontane« Gemeindekirchenratsitzung, auf der nur das Thema »Beschlagnahme des

Friedenshauses der Kirche« durch die Russen zur Debatte stand. Der

Superintendent erzählte, dass er am Karfreitag fünf Stunden mit den

Russen verhandelt hätte, in Gegenwart des kommunistischen Oberbürgermeisters

Paul (von Beruf Schneider), der nicht mal wusste, dass das Friedenshaus Eigentum der Kirche ist. So unorientiert ist unser Stadtoberhaupt, dem von Seiten des russischen Kommandanten deswegen auch einige »Freundlichkeiten« über seine Unorientiertheit gesagt worden waren. Nun wurde beschlossen, dass unser Bischof Dibelius in Karlshorst beim Nachfolger von Marschall Schukow vorstellig werden soll, um die Beschlagnahme des Friedenshauses und seine Einrichtung als Tanzbar rückgängig zu machen.

 

22.4. Ostermontag.

Die großzügige Butter-Zuteilung zu Ostern entpuppte sich als Pleite. Die Butter ist total ranzig! Vermutlich hatten die Russen deswegen ihre Annahme verweigert, und dann bekamen

wir Potsdamer sie gnädigst serviert. Zssseiten! Von meinem Fenster aus beobachte ich eben, wie das Zwiebelbeet, das neben einem großen Sowjetstern-Beet vor No. 38 angelegt war, jetzt wieder ausgebuddelt und mitten in unsere einst so hübschen Anlagen umgepflanzt wird.

Gestern Abend kamen Bades zum Kartoffelsalatessen und einer Stulle Trockenkäse, zu dem sie selbst 3 Scheiben Brot mitgebracht hatten. Leider musste Lindi gegen ½ 9 schon wieder nach Berlin zurückfahren. Als ich ihr die Haustür aufschloss, gab sie mir einen lieben Kuss: »Ich danke Dir so für all Deine große Liebe, Onkel Kieckebusch!« Sie steht uns wirklich sehr, sehr nahe und wir sind in rechter Sorge um sie, da sie in den nächsten Tagen nach dem Westen schwarz über die Grenze will, um nach ihrer jüngsten Schwester Dorli zu sehen. Es soll an der Zonengrenze sofort scharf geschossen werden, und Bade erzählte, dass er von einer Bekannten, die auch herüber wollte, aber nicht herüberkam, gehört hätte, dass an einem einzigen Tage 25 Erschossene in einem Massengrab

beerdigt worden wären.

 

23.4.

Nach dem Motto »Immer schön pünktlich!« begann schon heute hier die Verkaufsaktion der »Roten Nelke« zum 1. Mai!! A. musste auf dem Gesundheitsamt auch solch ein Prachtexemplar für 50 & kaufen.

Heute vor einem Jahr war der letzte Fliegeralarm in Potsdam, statistisch

der 389.! Die Russen waren schon in Köpenick und Wunsdorf, also im Süden Berlins, und abends war ein toller Kanonendonner auch im Norden. Das dritte und 1000-jährige Reich brach kläglich zusammen, was auch gar nicht anders zu erwarten war, weil es nur auf

faulen und morschen Pfeilern aufgebaut war. Hitler, ein Nero II. an

Größenwahn und Brutalität, der genialste Feldherr aller Zeiten, nahm

sich selbst das Leben.

 

24.4. Am Vormittag war ich in Berlin. Im Antiquariat von Gsellius

erlebte ich etwas, was auch nur in Deutschlang möglich ist. Bismarcks

»Gedanken und Erinnerungen« dürfen nicht mehr an- und verkauft

werden! Und 2 russische hohe Offiziere, die tadellos deutsch sprachen,

erklärten gleichzeitig, dass dies Bismarck-Werk zur PFLICHTLEKTÜRE

auf den russ. Akademien gehöre!!! Da staunt der Fachmann!

 

Heute vor einem Jahr wurde am Nachmittag erst die Lange Brücke

vor dem Bahnhof, dann die Glienicker Brücke in die Luft gejagt, völlig

sinnlos! Der Luftdruck war derartig stark, dass die Fenster an meinem

Schreibtisch aufflogen. Bald danach hörten wir die ersten russischen

Granaten in die Stadt heulen; sie kamen aus der Gegend vom Bahnhofsgelände.

Erika schrieb, dass sie aus Rußland eine Rote Kreuz-Antwort-

Karte vom Vater einer Schulfreundin von Ute sah, der seit JANUAR

1945 in Ostpreußen vermisst war. Jetzt endlich die ERSTE Nachricht.

So dürfen auch wir weiter hoffen …

 

 

(Auszüge aus: Werner v. Kieckebusch, „Ich traue dem Frieden nicht“ – Leben zwischen zwei Diktaturen – Tagebücher 1945-1946; Herder-Verlag, Freiburg i.Brg., 2020)