(Lesezeit fünf Minuten) In jedem Falle sind die schönsten Tage für Benjamin Netanjahu an der Macht endlich vorbei. Ob der israelische Ministerpräsident wegen des drohenden Prozesses um Bestechlichkeit und Amtsmissbrauch jetzt schon zurücktritt oder erst in ein paar Monaten; – nach einem guten Jahrzehnt seiner Macht ist das ohne Belang. In diesen Wochen strauchelt er jedenfalls schon, und darum versuche er „alles für seinen Machterhalt“, schreibt die Presse. Diese Maxime verfolgte freilich der Ex-Möbelverkäufer, der zu Beginn seiner Amtszeit noch besser amerikanisch sprechen konnte als israelisch, von vornherein. Vielen Israelis – vor allem älterer europäischer Herkunft aber auch nationalen Rechten – ist dieser smarte Charismatiker mit gewitzter Argumentationskraft darum auch stets unsympathisch gewesen. So erinnere ich mich an das Wort eines nationalreligiösen Rechtsprofessors und UN-Botschafters, der mir vor etwa 25 Jahren sagte: „Dieser Bibi ist zutiefst unmoralisch“.
Netanyahus Unmoral liegt darin, dass er vor seinen Wähler und der Welt sein eigen Wohl stets mit dem von Israel verwischte und mit populistischen Phrasen der „istraelischen Sicherheit“ gleichzusetzen verstand; Kritiker seiner Person und seiner Politik stempelt er gerne zu Israel-Feinden. Wenn Netanjahu aber von „bitachon“ gesprochen hat, meinte er mehr seine eigene Sicherheit im Amt als die der Nation. Und darauf reingefallen, konnte Netanjahu bei Wahlen immer wieder siegen. und Israel – auch wegen einer leidlich guten Wirtschaftspolitik – an den Abgrund führen: Vor 10 Jahren wäre es möglich gewesen, die israelische Bevölkerung noch von der palästinensischen zu trennen und so die Weiterexistenz eines jüdischen demokratischen Staates mit sicheren Grenzen zu festigen.
Nun aber ist das nicht mehr möglich. Nicht zuletzt, weil Netanjahu immer wieder zu neuen Zugeständnissen gegenüber den Siedlern bereit war, um seine Macht zu wahren, haben sich die Siedlungen im Westjordanland so weit ausgedehnt, dass man sich eine Trennung nicht mehr vorstellen kann. Netanjahu hat die Zwei-Staatenlösung unmöglich gemacht. Ich kann mich erinnern, wie Ministerpräsident Ariel Sharon mir 2006 in unserem letzten Gespräch, bevor er krank aus der Politik ausschied, vor der Landkarte deutlich machte, dass sich Israel nicht nur aus dem Gazastreifen sondern auch aus großen Teilen des Westjordanlandes zurückzuziehen habe. Sinngemäß sagte er, er habe auf mehr Einwanderer aus Russland gehofft, um die Bevölkerung im Westjordanland eindeutig israelisch zu machen. Es kämen nun aber nicht mehr so viele. Die arabische Bevölkerung bleibe mithin eine dominante Gruppe, und so müsse der Abzug fortgesetzt werden. Zu Israels Identität gehörten schließlich israelische Bevölkerungsdominanz und die Demokratie. Zu diesem Abzug aber ist es nie gekommen.
Nun sieht alles nach einer Ein-Staaten-Lösung aus. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn Netanjahu für einen Ausgleich zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölkerung gesorgt hätte. Stattdessen vertiefte Netanjahu die Spannungen zwischen den Völkern, die da auf einem so kleinen Raum wie im Bundesland Hessen zusammenleben. Netanyahu dämonisierte 20 Prozent der arabischen Bevölkerung in Israel. Knapp 20 Abgeordnete in dem 120 Sitze zählenden Parlament, die denselben Schwur auf die Israels Gesetze zu leisten haben wie ihre jüdischen Kollegen, gelten als aussätzig. Wer mit ihrer Hilfe zusammen eine Mehrheit bilde, mache sich eines antizionistischen Vergehens schuldig, heißt es in Netanjahus Propaganda. Nur einmal in der Geschichte Israels, in der kurzen Phase, die von Rabin und Peres geprägt wurde, waren die Araber in der Knesset als Mitgestalter geduldet. Dabei gehören diese gewählten Volksvertreter auch heute dazu.
Netanjahus Politik ist verhängnisvoll: Er will einerseits das gesamte Land diesseits und jenseits der Linie von vor dem Sechstagekrieg von 1967; andererseits sollen 20 Bevölkerung der Bevölkerung in diesem Land draußen bleiben. Dass eine so unsinnige Politik überhaupt so lange machbar war, hängt damit zusammen, dass schon die Väter Israels versuchten, jede Grenzziehung zu umgehen. Der Historiker Tom Segev beschreibt eindringlich, wie David Ben Gurion den ersten (aus Deutschland stammenden) Justizminister abkanzelte, als der auf eindeutige Staatsgrenzen hinwirken wollte. Das sei ja wohl das letzte, soll Ben Gurion gesagt haben. Peres und Rabin begannen auf strategischen Höhen erste Siedlungen zu bauen; das geschehe alllein aus „Sicherheitsgründen“, sagten sie. Tatsächlich legten sie so die Grundstruktur für den Wucherbau von heute.
Aber es ist nicht nur die mit Schuld der Staatsväter, dass Netanyahu Israel an den Abgrund führen konnte. Auch der Westen trägt seine Mitverantwortung: Bis heute wird die Theorie der Zweistaatenlösung am Leben erhalten, obwohl sie nicht mehr durchsetzbar ist. Bis heute behauptet die Welt, Jerusalem dürfe erst offiziell als Hauptstadt Israels anerkannt werden, wenn Israelis und Palästinenser dies gemeinsam beschlössen. Zugleich weiß die Welt wohl, dass solche Friedens-Verhandlungen nicht kommen werden. Bis heute wird der Flüchtlingsstatus der Palästinenser von den Vereinten Nationen vor allem in den Anrainerstaaten Israels, also in Libanon, Jordanien und Ägypten am Leben erhalten, obwohl nun bereits die vierte Generation diesen Status der attestierten Wurzellosigkeit leben muss, – für Urgroßeltern, die diese Urenkel kaum mehr kennen.
Aber was noch schlimmer ist: Netanjahu führt Israel im Gazastreifen in die direkte Abhängigkeit der Hamas-Islambruderschaft. Während die korrupte und unfähige PLO mit ihrer Marionette Präsident Abbas in Ramallah drohnt, bestimmt die raffinierte Terror-Organisation Hamas das Spiel mit Israel. In regelmäßigem Abstand feuert sie selbst oder aber der militante Dschihad Raketen auf Israel und lockt so die israelische Armee in einen Bodenkrieg in diesen eng besiedelten Landstreifen, den 80 Prozent der Bevölkerung – auch eine vierte Generation – noch nie verlassen konnten. In deren Hass und Israelfeindschaft wird der ungleiche Krieg mit Raketen gegen das hochgerüstete Israel gezüchtet.
Natürlich darf sich Israels Armee nicht in den Gazastreifen locken lassen, wo sie nur verlieren kann. Auch kann man sich einen Ausgleich zwischen Israel und Ägypten über Gaza nicht vorstellen. So hofiert Netanjahu die arabischen Staaten, um sich von dort immer wieder im Gaza-Streifen freizukaufen: Erst fallen die Raketen auf Israel; Netanjahu verspricht entschlossenes Handeln. und so fallen ein paar gezielte Raketen zurück, während er zugleich indirekt mit der Hamas über den Preis einer neuen Waffenruhe verhandelt. Fürs erst endet dann die Operation mit einem – immer größer werdenden – Aktenkoffer von vielen Millionen Dollar an die Hamas aus einem arabischen Golfstaat – Schweigegeld für einige Wochen Waffenruhe und Netanjahus politisches Versagen.
Dies allgemeine Versagen ist ein gefundenes Fressen für Populisten wie den amerikanischen Präsidenten Trump. Als der Jerusalem zu Israels Hauptstadt erklärte, erregte er über diesen Allgemeinplatz die gesamte westliche Welt. Die hätte diesen Schritt begrüßen und im gleichen Atemzug nicht nur auch eine Botschaft in Jerusalem eröffnen sondern sollen sondern im Ostteil der Stadt auch eine ständige Vertretung gegenüber der palästinensischen Autonomie. Jetzt brüstet sich Trumps Regierung vor ihrer evangelikalen Lobby damit, dass er den Siedlungsbau „nicht für grundsätzlich völkerrechtswidrig“ hält. Tatsächlich hat sich das Völkerrecht im Nahen Osten als zahnlos erwiesen, aber es bleibt eine der wenigen Messlatten. Schlimmer ist darum, dass dieser Schritt allgemein als „proisraelisch“ gilt. Dabei ist er das Gegenteil. Trump schadet Israel – aus den oben genannten Gründen; wohl aber nützt er kurzfristig Netanjahu.
Eine Politik, die Israel tatsächlich Nutzen bringen soll, indem sie die israelische Souveränität in sicheren Grenzen und mit demokratischen Strukturen schützt, muss sich endlich davon lösen, Netanjahu dienen zu wollen. Netanjahu hat großen Schaden über Israel gebracht. Nie war er bereit, ernsthaft nach Frieden zu suchen. Stets war es ihm lieber, kleine Konflikte so zu entzünden, dass er sie jederzeit wieder löschen konnte. So stabilisierte er seine Macht, ohne überhaupt nur an Frieden denken zu müssen. Netanjahu hatte nie eine Perspektive, Ganz persönliche Ziele prägen sein Verhalten: Bibi wollte sich stets vor allem gegen seinen übermächtigen Bruder „Yoni“ aufwerten, der als Elitesoldat bei der Befreiung der Geiseln in Entebbe 1976 fiel. Bibi wollte seinem Vater gefallen, der ihn offenbar gerne wegen dieses Heldenbruders missachtete. Schließlich geriet „Bibi“ in seiner Ehe an eine Frau, die auch gerne gut lebt und seine neureichen Allüren nach Champagner und Zigarren unterstützt. In Israels europäischer Gesellschaft, in den alten Eliten der Rabins oder Peres, sind Netanjahus – wiewohl auch europäischer Herkunft – nie angekommen. „Bibi“ blieb eine Outsider, der mit der Hilfe der außereuropäischen Israels aus arabischen Staaten und den „Russen“ an die Macht kam und sie nur mit Unterstützung der Siedler halten kann, die in ihm mutmaßlich einen nützlichen Idioten sehen – zum Schaden der gesamten Nation und Israels Zukunft.