(Lesezeit 4 Minuten) Militärische Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen sind nichts Besonderes. Sie sind in den letzten Jahren aber nicht nur Routine geworden: Das sich jeweils abspielende Muster lässt Israel zudem nie als gerechtfertigten Sieger zurück. Moralisch erscheint Israel vielmehr stets als Verlierer. Diesmal ist die Auseinandersetzung besonders verbittert und könnte gar zum Beginn einer neuen, dann dritten „Intifada“ werden – Israel dürfte auch die verlieren, selbst wenn es militärisch siegt. Vielleicht aber gewinnen erstmals seit Jahren auch andere, alte Kräfte wieder an Einfluss – wie das Nah-Ost-Quartett.
Selbst wenn die ersten Raketen aus dem Gazastreifen abgeschossen werden und sich Israel mithin zu einer Verteidigung aufgerufen sieht, bei Israel bleibt stets der Vorwurf zurück; die übermächtige Luftwaffe antworte überproportional auf tumbe, ungenau zielende Raketen und töte im Gazastreifen ungezählte Menschen. In Gaza seien Frauen und Kinder unter den Opfern, während Hamas-Raketen kaum töteten. Die sich nicht an Menschen und ihren Schicksalen, sondern an ihrer Ideologie orientierendende islamistische Terrorgruppe will genau das erreichen: Hamas, wiewohl Aggressor, möchte als Israels Opfer erscheinen. Dafür schießt Hamas aus Wohnvierteln und bedient sich unschuldiger Zivilisten als Schutzschilde. Diese Toten in der eigenen Bevölkerung sind dann der Hamas-Triumph.
Bis Dienstag hatte Israel in dem von zwei Millionen Menschen dicht bewohnten Gazastreifen offenbar mindestens 35 Personen getötet; unter den Toten seien auch zwölf Kinder, teilten palästinensische Sanitätsdienste mit. Israels Militär legte dagegen auf andere Angaben Wert: Mehrere Feldkommandeure und Kämpfer von Hamas und dem Islamischen Dschihad seien getroffen worden. Beim Angriff auf einen Tunnel der Hamas sollen auch Kämpfer dieser Miliz ausgeschaltet worden sein. Mittlerweile machte Israel deutlich, dass gewiss noch mehr Blut vergossen werde. „Hamas und Islamischer Dschihad haben gezahlt und werden weiter einen sehr schmerzhaften Preis für ihre Aggression zahlen“, sagte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Tatsächlich fielen auch diesmal wieder die ersten Raketen aus dem Gazastreifen. Es waren mehr und sie trafen besser: Nach israelischen Angaben schossen die Milizen bisher mehr als 1050 Raketen auf Israel ab, von denen allerdings 200 zu kurz flogen und noch in Gaza niedergingen.
Selten kamen in den vergangenen Jahren Israelis um. Diesmal aber ist das eben anders. Bis Mittwochvormittag wurden bei den Raketenangriffen aus Gaza fünf israelische Zivilisten getötet: Am Dienstag waren zwei Frauen nach einem Raketenangriff in Aschkelon, am Abend eine weitere Frau in Rischon LeZion getötet worden; und ein arabisch-israelischer Mann und seine 16 Jahre alte Tochter mussten auch ihr Leben lassen, als in Lod bei Tel Aviv eine Rakete im Hof ihres Hauses niederging. Wir sehen also das bekannte Muster; erleben aber deutlich mehr Opfer auf israelischer Seite. Auch hat die Reichweite der Hamas-Bomben zugenommen. Hamas zielt auf Tel Aviv und Jerusalem. Und so sieht sich Netanjahu zu einer noch heftigeren Reaktion aufgefordert.
Aber dieser Frühlingskrieg ist nicht nur blutiger. Er hat auch noch aus einem anderen Grund die Qualität für eine neue Intifada. Denn diesmal ist der Anlass eine israelische Aggressivität in Jerusalem, und Hamas könnte diesen Anlass so wie im Herbst 2000 für eine neue „al Aqsa-Intifada“ nutzen. Seit Jahren gibt es Prozesse um Häuser im Jerusalemer Viertel Scheich Jarrah – nördlich der Altstadt, nahe beim Nobel-Hotel der „American Colony“. Es geht um kleine Häuser, deren Wohnwert gering ist. Aber juristisch haben sie großes Gewicht; denn in ihnen wohnten einst Juden, die im Sechstagekrieg 1967 vertrieben wurden. Jetzt wollen jüdische Siedler und ihre Anwälte die arabischen Bewohner vertreiben. In vielen Fällen urteilten israelische Richter schon zugunsten dieser Siedler. Offenbar stehen auch jetzt bereits Zwangsräumungen bevor, und nur der israelische Generalstaatsanwalt könnte das Blatt wenden.
Mit der weiteren Vertreibung von Palästinensern – aus dem völkerrechtlich umstrittenen aber von Israel einseitig annektierten Ostjerusalem – würde die jüdische Besiedlung bisher palästinensisch bewohnter Viertel in Jerusalem fortgesetzt; so wie es jetzt schon südlich des Tempelberges in der „Stadt Davids“ geschieht. Dort müssen – zum Beispiel auch unter dem Vorwand archäologischer Grabungen nach Resten der Stadt Davids – palästinensische Bewohner aus ihren Häusern, obwohl sie dort in manchen Fällen bereits drei Generationen wohnen. Aus diesem Kampf um Immobilien hatten sich in den letzten Wochen rund um das Damaskus-Tor fast täglich Straßenkämpfe ergeben, bei denen junge Palästinenser und israelische Sicherheitskräfte gegenüberstehen. (Keineswegs beruhigend wirkt da eine andere Maßnahme Israels aus jüngster Zeit: Dieses Damaskus- Tor trägt seinen Namen schon seit römischer Zeit; jetzt aber nannte die Stadtverwaltung das nördliche Haupttor der Stadt um und widmete es zwei Israelinnen, die palästinensischem Terror zum Opfer fielen.) Israelische Siedler feuern mit eigenen Aggressionen die Kämpfe an; und in diese Auseinandersetzung um Jerusalem ist Hamas nun von draußen, aus dem Gazastreifen heraus eingetreten.
Weil die hohe Zahl eigener Opfer nicht zählt, schwadroniert Hamas sogar schon vom Sieg, rief Hamas-Politbürochef Ismail Hanije in der Nacht zum Mittwoch den „Sieg im Kampf um Jerusalem, der Verteidigung Jerusalems“ aus und sprach vom neuen „Gleichgewicht der Kräfte“ mit Israel, und weiter: „Wir sind bereit für eine Eskalation und bereit für Ruhe, unter der Bedingung, dass (Israel) seine Aggression gegen Jerusalem beendet“. Das muss Israel weiter reizen, und so steht in der Tat die Fortsetzung des Kampfes an. Dabei hat Hamas einen glücklichen Zeitpunkt gefunden. Die palästinensische Führung unter Präsident Abbas ist geschwächt. Sie hatte Neuwahlen angekündigt und nun wieder zurückgezogen. Offiziell geschah das, weil Israel in Ostjerusalem keine Wahlen zulassen wollte. Das aber war von vornherein klar. Abbas sagte vielmehr die Wahlen ab, weil die Abbas-Partei Fatach in drei Blöcke gespalten ist und mutmaßlich bei den Wahlen gegenüber Hamas verlieren würde. Wohlmöglich ist Abbas sogar so schwach, dass er keinen Einfluss auf die Politik im Gazastreifen hat, womit Hamas dort freie Hand hätte.
Früher wurden solche Konflikte zwischen Israel und Hamas mit (meist israelischen) Geldern, die Golfstaaten bar an Gaza zahlten und/oder der politischen Vermittlung Ägyptens eingedämmt. Davon ist bisher noch nicht die Rede. Womöglich ist Ägypten als Vermittler keine Adresse mehr. Der gesamte Nahe Osten hat sich durch seine Annäherung an Israel verändert und muss sich neu justieren. Da stellt sich zum Beispiel die Frage: Kann man gleichzeitig mit Israel Frieden schließen und auch mit Hamas reden, die im Westen als Terrororganisation gilt? Der Hamas dürfte es vor allem darum gehen, möglichst viel Unfrieden zu säen, einen möglichst hohen Preis für eine Waffenruhe zu erwirken und Israel weiterhin quasi im moralischen Würgegriff zu halten; nach dem bekannten Motto: „Israel kann sich alles erlauben. Aber wir Palästinenser – auch wir eingeschlossenen zwei Millionen Araber im Gazastreifen – sind die Opfer israelischer Kolonisation.“
Hanije dürfte besonders glücklich darüber sein, dass es diesmal um Jerusalem und seinen Status geht. Eigentlich interessiert sich nämlich niemand im Nahen Osten und sonst wo in der Welt für Palästinenser und den Nahostkonflikt. Aber wenn es um Jerusalem geht, dann gibt es schon einmal die Chance, hörbar Poker zu spielen. Mutmaßlich kann jetzt nur der amerikanische Präsident Biden die Kämpfe zu einem Schluss führen; wohlmöglich sogar mit Hilfe der EU. Das wäre mal eine Perspektive für das alte „Nah-Ost-Quartett“, in dem USA und EU, Russland und die UN sitzen. Das Quartett wurde 2002 ins Leben gerufen – aber dämmert seit Jahren einflusslos dahin. Bringt das Blutvergießen vielleicht eine neue Chance für Vermittlung mit sich? jöb.