Bleibt Israel eine Demokratie?

(Lesezeit vier Minuten) Ob Israel nach diesem Wahlergebnis und mit der kommenden Regierung noch eine Demokratie bleiben wird? Schon bisher ist zum Beispiel das Oberste Gericht in Israel immer stärker unter dem Druck der Regierung geraten, die über die Besetzung der Oberrichter ihren Einfluss ausweitete und nicht zuletzt dafür gesorgt hat, dass immer wieder Entscheidungen aufgeschoben und politisch im Sinne der Regierung „geglättet“ werden. Nun dürfte Benjamin Netanyahu vom Likud – mit seinem Block – an die Macht zurückkehren, gegen den seit Jahren ein Korruptionsverfahren läuft. Seine Frau Sara und er ließen und lassen sich offenbar ungeniert von Interessierten mit bestem Champagner versorgen, und wenn der Gemahlin ein Geschmeide behagt, dann lässt sie sich das von interessierter Seite schenken. So sagten Zeugen in dem nicht enden wollenden Prozess aus. Die nächste Bibi-Regierung will nun dem Premier per Gesetz Immunität verschaffen.
Aber nicht nur „Bibi“ steht für Korruption: Aryeh Deri von der Blockpartei Schas wurde schon zweimal wegen Steuervergehen verurteilt. Er strebt nach Angaben israelischer Zeitungen an, mit der Würde des Finanzministers für seine Treue zu Netanyahu entschädigt zu werden. Deri saß schon in Haft, musste sein jüngstes Mandat in der Knesset wegen des zweiten Steuer-Verfahrens aufgeben. Seine Anhänger in der ultraorthodoxen Sephardischen Partei bejubeln diesen Mann aber, der es offenbar aus der Gosse zu größerem Reichtum brachte. Und das begeistert seine ultraorthodoxen Fans, die allemal so wählen, wie es die Schas-Rabbinen wollen. Ihnen geht es vor allem darum, die ultraorthodoxe Gesellschaft weiter zu pampern; umweltgefährdende Plastikwaren sollen z.B. billig bleiben, denn teureres Gut können sich die ärmeren Ultraorthodoxen nicht leisten.
Am gefährlichsten für Israels Demokratie aber ist ein dritter Partner von Netanyahu: „Jüdische Stärke“ (Otzma Yehudit) heißt programmatisch die postzionistische Siedlerbewegung, deren Sprachrohr Itamar Ben Gvir ist. Sie wurde nach dem Likud (und der bisherigen Regierungspartei Yesh Atid), drittstärkste Kraft in der Knesset und damit der gewichtigste Koalitionspartner im Bibi-Block, steuert diese Gruppe doch 14 Mandate zu Bibis 32 bei. Insgesamt kommt sein Bündnis offenbar auf 64 der 120 Sitze in der Knesset. Ben Gvir ist ein Politiker, der nicht zufällig in Hebron lebt, wo er seit Jahrzehnten den Palästinensern – aber auch dem israelischen Militär – das Leben schwer macht. Der Mann, eigentlich Anwalt, behindert den Handel von Arabern im Schuk oder beschimpft alle, die nicht mit ihm sind, stets seine Waffe am Mann. Vom Militär lässt er sich wegen seiner „Immunität als Abgeordneter“ nichts sagen. Im mehrheitlich arabisch bewohnten Ostjerusalem unterhielt er in den vergangenen Monaten ein Wahlbüro, von wo aus immer wieder seine Schlägertrupps junger Männer auf der Straße die Nachbarn bedrängen. Es ist schon bis zum Tempelberg zu Schlägereien gekommen, die die Polizei nur schlecht unter Kontrolle halten konnte.
Ben Gvir rühmt sich offen, ein Rassist zu sein. Einst rief er „Tod den Arabern“, nun mäßigte er seinen Ton und ruft „Tod den Terroristen“, was nach seiner Meinung arabische Abgeordnete in der Knesset miteinschließt. Baruch Goldstein, der 1994 im muslimisch-jüdischen Heiligtum der Machpela 29 betende Muslime tötete und mehr als 100 verletzte, ist ein Idol für Ben Gvir, der dafür sorgte, dass diesem Attentäter vor Hebron ein Denkmal errichtet wurde. In der Machpela von Hebron erinnern sich Juden und Muslime – gemeinsam aber doch physisch nach den Gebetsstunden streng voneinander getrennt – an Urvater Abraham, der dort beerdigt sein soll. Ben Gvir, den die israelische Armee wegen seiner extremistischen Haltung ausmusterte, könnte – nach seinem eigenen Wunsch – Minister für Israels Sicherheit werden.
Natürlich fragt sich da, warum die israelische Gesellschaft so stark nach rechts gerückt ist. Tatsächlich ist das israelische Volk seit langem schon in zwei Lager gespalten. Das „Tel Aviv-Israel“ am Meer steht für Liberalität, Demokratie und den Ausgleich. Die Menschen aber haben weniger Kinder und sind an Politik weniger interessiert; vor allem aber fehlt es ihnen an charismatischen über ihre Grenzen hinweg bedeutenden Persönlichkeiten. Oben in Jerusalem und längs der Bibelstraße von Nablus bis Hebron lebt das „Jerusalem-Israel“. In den Siedlungen verharren diese meist “religiösen“ Israelis in ihrer eigenen Welt. Sie hat nichts mit dem Völkerrecht und der Demokratie zu tun, sondern mit einer messianischen Verheißung von Ganz-Israel. Die wollen keinen „Juden-Staat“, sondern einen „jüdischen Staat“. Tag für Tag leben sie in der Wirklichkeit ihrer arabischen Nachbarn, deren Existenz sie als störend, wenn nicht gotteslästerlich empfinden.
Der liberale „Staat der Juden“ entspricht der zionistischen Tradition der Staatsgründer. Für sie war die Anwesenheit von Minderheiten in Israel selbstverständlich und die Demokratie auch. Sie wollten – und so vertreten es auch die heute so schwachen früheren Regierungsparteien Awoda oder Meretz (nicht mehr in der Knesset) – Israel als modernen Partner in der Welt. Das „Jerusalem Israel“ sieht hingegen nur Antisemiten allenthalben und kommt ohne die Welt aus. Dieses nationalistische Israel ist zudem jung und wächst; denn die Geburtsrate bei Orthodoxen und Siedlern ist höher als im Durchschnitt der Gesellschaft. Längst funktionieren bei diesen Radikalen die normalen Kriterien von Anstand und Etikette nicht mehr. Vielleicht gäbe es heute Ben Gvir nicht, wenn er ordentlich bestraft worden wäre, als er mit 18 Jahren die Kühlerhaube vom Wagen des damaligen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin demolierte. Stattdessen konnte er damals stolz in die Kamera tönen: „Wenn der Ministerpräsident radikale Sachen tut, muss er auch mit radikalen Reaktionen rechnen.“ Wenige Wochen später wurde am 4. November 1995 Rabin von einem faschistoiden religiösen Siedler in Tel Aviv erschossen. Über den alltäglichen palästinensischen Terror, klein oder groß, wird in Rundfunk und Presse ausführlich berichtet. Weniger Aufmerksamkeit finden aber Meldungen, die genauso alltäglich sind: Siedler greifen palästinensische Familien während der Olivenernte auf ihrem eigenen Land mit Stöcken an. Vier Mitglieder wurden verletzt Verletzungen Krankenhaus gebracht werden; eine hatte einen gebrochenen Arm, berichtete die israelische Menschenrechtsgruppe B’Tselem diese Woche. Die Siedler hätten Oliven gestohlen und zwei Mobiltelefone. Längst haben sich Israelis und die Welt an solchen Meldungen gewöhnt.
Aber nun läuten nach dem Wahlergebnis allenthalben die Alarmglocken. In Washington hieß es am Morgen nach den ersten Auszählungen, man hoffe darauf, dass die neue israelische Regierung die „Werte einer offenen, demokratischen Gesellschaft“ einschließlich ihrer Minderheiten respektiert. Außenamtssprecher Ned Price wies auf die gemeinsamen Interessen und Werte hin. Doch eine Regierung unter Trump sähe das ganz anders; Bibi und Trump sind Buddies. Auch die amerikanischen Juden warnen Jerusalem. Die britische Regierung fordert Israels Sieger dazu auf, die Rechte der Minderheiten zu respektieren. Nun rächt sich, dass der Westen viel zu lange zugesehen hat. Nach Gebetsmühlenart wurde stets von der Zwei-Staaten-Lösung geredet. Aber dass es die gar nicht mehr geben kann, weil das palästinensische Land völlig zersiedelt ist, wurde nicht mehr zur Kenntnis genommen – Folge einer bequemen Denkfaulheit. Der Westen hat auch der Radikalisierung in Israel selbst nur zugesehen. Die ungleichen Rechte in diesem Land, in dem die jüdischen Israelis alle Rechte haben, aber schon die israelischen Araber – auch wenn sie israelische Bürger sind – vor Gericht benachteiligt werden und die Palästinenser in den besetzten Gebieten weiter unter Militärrecht stehen, werden selten zum Thema gemacht. Tagtäglich kommen Steine werfende oder Messer schwingende Palästinenser um. Sie werden erschossen, während Siedler, die ähnlich gegen Araber vorgehen oder gegen das Militär, verwarnt und milder bestraft werden.
Freilich müssten es vor allem die Palästinenser selber sein, die auf diese Ungerechtigkeiten hinweisen. Die „Autonomiebehörde“ unter den mittlerweile greisen Machmud Abbas tut aber quasi nichts. Er und seine beiden Söhne scheinen vor allem an ihren wirtschaftlichen Vorteil zu denken, während die Bevölkerung von ihnen keine Hilfe erwarten kann. Willfähig geriert sich die „Autonomie“ als Helfer für die israelische Sicherheit; in den Gefängnissen wird gefoltert und gestorben. Islamisten haben es dort als Feinde der säkularen „Regierung“ in Ramallah am schwersten. In Bezug auf die Staatenbildung entwickelt sich dies Gebilde aber nicht weiter. Längst finanziert der Westen vor allem Projekte, bei denen die Bürokraten nicht die Hände aufhalten können. Dabei hatten die Palästinenser ein wunderbares Vorbild; sie hätten nur die Staatenbildung der Zionisten nebenan abgucken und nachzuahmen brauchen. Stattdessen Apathie und Desinteresse. In den Autonomiegebieten hat die Autonomiebehörde keine Mehrheit mehr; deswegen scheut sie nach mehr als 15 Jahren an der Macht auch Wahlen.
Wenn die Palästinenser in Ostjerusalem an den Stadtratswahlen teilnehmen würden, dann würde Jerusalem längst anders regiert. Aber aus Ramallah kommt der Befehl, nicht wählen zu gehen; denn das würde ja eine Anerkennung der israelischen Oberhoheit darstellen. Ein ähnliches Denken verfängt auch in Israel selbst. Die israelischen Araber fühlen sich von der Politik in der Knesset nicht vertreten; tatsächlich aber hätten sie das jüngste Wahlergebnis zu ihren Gunsten verändern können. Während die Mehrheit der jüdischen Israelis mit 70 Prozent zu den Wahlen ging, blieb die Wahlbeteiligung bei den arabischen Israelis weit unter 40 %. Wenn nun die israelische Politik noch stärker als bisher eine antiarabische Haltung einnimmt und die etwa 20 Prozent der Araber im eigenen Land marginalisiert, dann sind daran auch die israelischen Araber selber schuld. (jöb.)

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