Die Ukrainer haben moralisch längst gewonnen

(Lesezeit 3 Minuten) Genauso gebannt wie gelähmt betrachtet die freie Welt seit Donnerstag vor einer Woche Putins Überfall und versuchten Blitzkrieg gegen die freie Ukraine. Längst wurde der Diktator im Kreml in einen Abnützungskrieg unter höchsten Opfern gewungen. Doch selbst wenn die Besatzer dann eines Tages siegen – werden sie zugleich verloren haben. Schon jetzt gebührt der ukrainischen Nation der Lorbeerkranz des Triumphes. Das hört sich pathetisch an, aber dieser vor Tagen noch unvorstellbare Angriffskrieg nach den Mustern des 18./ 19. und 20. Jahrhunderts wie bei Friedrich II. (gegen Schlesien) oder Hitler (gegen die Welt), verziert durch Putins revanchistische und imperialistische Wahnideen, lenkt die Gedanken auch in die Vergangenheit zurück, und alte, sehr alte Heldentaten werden wieder wach.

Wie sagte doch Spartaner-König Leonidas dem Perserkaiser Xerxes, als der die griechische Armee aufforderte, ihre Waffen zu strecken: „Kommt und holt sie euch!“ Dieser Ausspruch wurde vom Historiker Plutarch überliefert und erinnert an die heldenhafte Niederlage der griechischen Minitruppe an den Thermophylen 480 v. Christus. Gewiss, die Sprache hat sich gewandelt, aber Ähnliches spielte sich nun auf der nur 600 Meter langen, aber strategisch wichtigen Schlangeninsel im Schwarzen Meer ab. Ein Kriegsschiff des heutigen Xerxes – Putin – taucht vor der Insel auf und bellt zu den 13 ukrainischen Bewachern: “Hier spricht ein russisches Kriegsschiff. Ich schlage vor, Sie übergeben Ihre Waffen und kapitulieren. Andernfalls werde ich das Feuer eröffnen.” Darauf antwortet – nach kleinem Austausch mit den Kameraden – ein Ukrainer dem Putin-Offizier: “Russisches Kriegsschiff, go fuck yourself!” Die ukrainischen Soldaten wissen, dass das ihren Tod bedeutet. Der Funkverkehr endet. Nach Angaben des Blogs The Maritime Executive (unter Berufung auf ukrainische Medien) eröffneten die russischen Kriegsschiffe Moskva und Vasily Bykov das Feuer, stürmten die Insel – und die 13 Helden sterben.

Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj hat mittlerweile diese Soldaten zu “Helden der Nation” erklärt. Dabei erscheint auch dieser junge Präsident aus jüdischem Hause, den der nervös gewordene Putin als den Chef einer „Bande von Faschisten“ und „Drogensüchtigen“ bezeichnet, selbst das Zeug zum Helden zu haben. Als französische Geheimagenten in Kiew anboten, ihn außer Landes zu bringen, antwortete der Präsident, er brauche „Waffen und keine Mitfahrgelegenheit“. Gegen die Gerüchte, dass er längst geflohen sei, bildete er sich auf einem Selfie-Handy mit seiner Regierungsmannschaft an. „Ich bin hier.“

In seiner jüngsten Botschaft, die er am Samstagmorgen auf einer Straße in Kiew aufnahm, sagte Selenskyj: Die ukrainische Armee werde ihre Waffen nicht niederlegen, sie werde sich verteidigen. Das Land müsse verteidigt werden. „Ruhm der Ukraine!“ Müde und gefasst lächelt der junge Held. Er wünsche „allen einen guten Morgen“. Kiew ist belagert.

Anders als in den Kriegen der Vergangenheit, als es Nachrichten noch lange Zeit brauchten, um zum Beispiel von der Niederlage des Leonidas daheim in Sparta zu berichten, fliegen die Bilder aus den Handys heute in Windeseile über den Globus. Gewiss, nachrichtentechnisch lässt sich das meiste nicht verifizieren; doch die Stimmung und der Widerstandsgeist der ukrainischen Nation werden unzweifelhaft deutlich. Auch die gebildeten oder/und jungen Russen werden mittlerweile im Land des neuen Zaren westlich und östlich des Urals wissen, was sich da tatsächlich in der Ukraine abspielt. Die russische Medienaufsicht hat zwar den einheimischen Journalisten die Charakterisierung des Großangriffs auf die Ukraine als „Angriff“, „Invasion“ oder untersagt. Derartige Begriffe sollten aus ihren Berichten gelöscht werden, ebenso wie alle Hinweise auf von den russischen Streitkräften in der Ukraine getöteten Zivilisten, heißt es von der staatlichen Medienbehörde. Doch dieser Befehl zur Lüge macht die Kluft zwischen Wirklichkeit und Propaganda nur noch deutlicher, verklärt geradezu den Kampf der Ukrainer.

Mittlerweile demonstrieren so auch nicht nur weltweit Menschen (ohne Gefahr für ihr Leben) für die Helden der Ukraine; selbst in Russland mehren sich die Nachrichten und Demonstrationen gegen Putin. Bei diesen Anti-Kriegs-Protesten wurden nach Zählung der Bürgerrechtsgruppe OVD-Info am Freitag mindestens 560 Menschen in 26 Städten festgenommen. In vielen Fällen wurden Bußgelder oder Arreststrafen verhängt. In zehn Polizeistationen in vier Städten sei es Anwälten der Organisation gelungen, den Festgenommenen juristischen Beistand zu leisten, hieß es in der Bilanz in der Nacht zu Samstag weiter. Putin bekommt so vielleicht auch schon den Sieg der Ukraine zu spüren. Beliebt macht ihn dieser Krieg jedenfalls nicht.

Vorsichtig distanziert sich selbst Russlands Partner China und stimmt nicht – mit Moskau – gegen die Anti-Kriegsresolution im UN-Sicherheitsrat, sondern enthält sich: „China ist zutiefst besorgt über die jüngsten Entwicklungen der Lage in der Ukraine. Jetzt sind wir an einem Punkt angelangt, den wir nicht sehen wollen“, sagte UN-Botschafter Zhang Jun bei einer Dringlichkeitssitzung im Sicherheitsrat. „Wir glauben, dass die Souveränität und territoriale Integrität aller Staaten respektiert und die Ziele und Prinzipien der UN-Charta allesamt gewahrt werden sollten.“ Man unterstütze Verhandlungen Russlands und der Ukraine bei der Lösung des Konflikts.

Doch dieser allseitig zur Kenntnis genommene moralische Triumph der Ukraine ist blutig. Am Samstagmorgen sagte der ukrainische Gesundheitsminister, seit Beginn des russischen Einmarschs seien 198 Menschen getötet und mehr als 1000 weitere verletzt. Unter den Getöteten seien drei Kinder, ergänzte Wiktor Ljaschko; zu den 1115 Verletzten zählten 33 Kinder. Mutmaßlich sind es deutlich mehr; denn es dürfte schwer sein, genaue Zahlen zu ermitteln.

Überall in der riesigen Ukraine wird nämlich zu dieser Stunde gekämpft. Es sterben dabei nicht nur Zivilisten, die nach Putin vermeintlich gar kein Ziel sind; es fallen vor allem Soldaten. Die ukrainischen Streitkräfte wollen nach eigenen Angaben seit Beginn der Invasion den Russen schwere Verluste zugefügt haben. 3500 Putin-Soldaten seien getötet und 200 weitere gefangen genommen worden, teilte das ukrainische Militär am Samstag mit. Und wie viele Ukrainer fielen? Zudem seien 14 Flugzeuge, acht Hubschrauber und 102 Panzer sowie mehr als 530 weitere Militärfahrzeuge zerstört worden, sagen die Ukrainer. Auch diese Angaben können nicht unabhängig überprüft werden. Derweilen verlassen immer mehr Ukrainer ihr Land. Seit Beginn des russischen Kriegs sind nach UN-Angaben schon mehr als 120.000 Menschen geflohen.

Schon am Mittwoch hatte sich der Ex-Weltmeister im Schwergewichtsboxen – Wladimir Klitschko – als Reservist bei der ukrainischen Armee gemeldet. “Es ist natürlich die Liebe, die Liebe zu meiner Stadt, zu meiner Heimat, meiner Familie, meine Nachbarn, meine Tochter, die mich hierhergebracht hat. Dass ich die Initiative übernommen habe und Teil der territorialen Verteidigung geworden bin.” Im Beisein von Wladimir und seinem älteren Bruder Vitali Klitschko, der Bürgermeister der ukrainischen Hauptstadt ist, war ein erstes Rekrutierungsbüro für Reservisten eröffnet worden. Das war am Mittwoch. Heute gibt es dort lange Schlangen. Das Sehnen nach Freiheit ist groß; offenbar auch die Kampfbereitschaft. Die ukrainische Nation zeigt so der Welt – und deutschen Schläfern; dass es Freiheit und Demokratie nicht umsonst gibt. (jöb.)