Heute vor 75 Jahren in Potsdam – Tagebuch Werner v Kieckebusch

Am 24. April hat das Tagebuch von Werner v. Kieckebusch eingesetzt. Die letzten Kriegshandlungen in Potsdam sind vorüber. Etwa zehn Tage später lesen wir:

3.5.
Gestern haben wir Hubertus’ Bild aus dem Keller wieder heraufgeholt
und im Wohnzimmer aufgehängt, ebenso noch andere Bilder,
die wir vor Bombenangriffen in Sicherheit gebracht hatten. Alle Radios
müssen im Werner-Alfred-Bad abgegeben werden, aber die Leute
kommen mit den z. T. recht schweren Apparaten wieder zurück, da
der Andrang zu groß ist und sie sonst lange Stunden stehen müssen.
Wie mag es unseren Kindern Erika u. Burkard gehen? Dieser Gedanke bewegt uns
immerfort. Wie lange wird es noch dauern, bis wir endlich mal Nachricht
von den geliebten Kindern und Enkeln bekommen? Und wie werden
sie sich auch um uns ängstigen! Ein ganz großes Glück, dass unsere
Mausefalle – Jägerallee 40 – so abseits liegt und dadurch von Plünderungen bewahrt
blieb. Wie sehen da die Häuser u. Wohnungen aus, die an den Hauptstraßen
liegen! Leider wurden sie z. T. selbst von Deutschen ausgeraubt!
Am Vormittag wollte ich den 90 Jahre alten Generallt. Krahmer
besuchen, den ich aber leider nicht antraf. Auf dem Rückweg traf ich
den Grafen Hardenberg, der aus dem Konzentrationslager Oranienburg (wegen
seiner Verwicklung in den 20.Juli) zu Fuß “mit anderen politischen Verbrechern” nach hier
gekommen war. Er hatte gehört, dass auch die Uckermark von den
Russen besetzt sei.
Am Nachmittag holte ich mit (Ehefrau) Anneli mit unserem Wägelchen einen
Waschkorb u. einen Sack voll Generatorholz aus der Gard-du-Corps-
Kaserne. Vor vier Wochen wäre ich noch nicht mit Wägelchen durch
die Stadt gezogen! Tempora mutantur! Oberstlt. v. Plessen, der Sohn
des Generaladjutanten, fegte vor seiner Türe in der Kurfürstenstraße
die Straße rein! Von Bekannten hat sich am ersten Tage der Russeninvasion
hier auch der Landforstmeister Lach mit seiner Frau erschossen.
Selbstmorde zu Hunderten, vielleicht doch oft
etwas voreilig!

Zum deutschen Kommandanten von Potsdam wurde Oberst v. Wolfersdorff
ernannt, der russische Kommandant wohnt in der Albrechtstraße
im Hause von Frau v. Stülpnagel, Witwe des Kammerherrn.
Oberst v. Kretschmann, Pour le Mérite, wurde gleich an einem der ersten
Tage festgenommen, da er der SS angehört hatte. Schwerin-Krosigk
soll Außenminister geworden sein, Dönitz Nachfolger von Hitler, der
angeblich in Berlin fiel. Andere behaupten, er wäre wie Göring getürmt.
Anneli bekam heute die neuen Lebensmittelkarten, so dass wieder
etwas Ordnung in dies Durcheinander kommt. Am Abend des 2. Mai
war noch Frau v. Schellwitz gekommen und hatte gefragt, wohin sie
einen verwundeten Zivilisten bringen könnte, der unten in ihrem
Haus durch die Lunge geschossen wurde. Ein Russe war eingedrungen
u. suchte nach Waffen. Der Zivilist beteuerte, keine Waffe zu haben,
als der Russe auf dem Tisch ganz offen einen Revolver liegen sah, den
ein Russe hatte liegen lassen. Darauf schoss er dem Zivilisten durch
die Brust.

4.5.
Von 2 Uhr morgens an bis gegen 7 hörten wir fast ununterbrochen
Kanonendonner nördlich von Berlin, auch hier fielen einzelne
Kanonenschüsse u. noch mehr Gewehrschüsse. Obwohl das Betreten
der Straßen erst ab 8 Uhr erlaubt ist, stehen die Leute bereits von
7 Uhr an vor den Bäckereien. Pro Kopf gibt es ein Dreipfundbrot pro
Woche.
Am Vormittag brachte ich schweren Herzens 2 Aktentaschen mit
300 Schrotpatronen, Annelis Fotoapparat u. meinen zum Werner-Alfred-
Bad. Mein Name wurde notiert, worauf ein uniformiertes
Flintenweib die Apparate auf einen Riesenhaufen anderer Apparate
warf, die Patronen in eine andere Ecke. Tausende von Radios standen
bis zur Decke gehäuft herum, Tausende draußen im Garten, völlig verregnet!
Noch haben wir unsere nicht abgegeben!
Um ½ 4 erschien Arnsberg wieder, der auf dem Rade seiner
2. Tochter aus Zehlendorf wieder zurückkam, wo er sein Haus zwar
heil, aber das Mobiliar total zerstört vorgefunden hatte. Nach dem
Mittagessen stürzten A. und ich zur Deutschen Bank, aus der heute
Vormittag allerhand aus dem Tresor auf Lastwagen verladen worden

sein sollte. Wir sahen vor d. Türe einen Posten sitzen u. einen Volkswagen
stehen, auf dem 2 Mäntel lagen. Vermutlich waren die beiden
russischer Besitzer dieser Kleidungsstücke in die Bank eingedrungen.
Hoffentlich bleibt unser Silberkasten u. ein großer Koffer mit Wäsche
und Silber verschont!
Um 5 Uhr besuchte ich Exzellenz Krahmer u. traf dort seine
Nichte, Frau v. Poten, die auch gehört hatte, dass Dönitz »Reichspräsident
« geworden sei u. “der Kampf weitergeht”. Göring soll in
Schweden sein, Hitler u. Goebbels tot, Mussolini ermordet. Bei Krahmer
brannte schon wieder das elektrische Licht, so dass wir wohl auch
»guter Hoffnung« sein dürfen!
Kurz vor dem Abendessen besuchte uns Erna v. Kotze, die in d.
Jägerallee 38 bei Frau v. Sell unterkam, nachdem ihre Wohnung durch
Artillerievolltreffer fast ganz zerstört wurde. E. erzählte, dass Herr
v. Müldner seine Hausdame, s. Mädchen u. sich selbst in Cecilienhof
erschossen hätte. Auch der sächs. Innenminister a. D. u. Präsident der
Oberrechnungs-Kammer General Müller brachte seine Familie und
sich um.
In der Hindenburgkaserne wurde die große Werkstatt freigegeben.
Ich ging sofort hin und organisierte Sägen, Zangen, Feilen, Zwirn,
Wachstuch etc. Für Erika wurde allerhand zurückgelegt!
Am Nachmittag besuchten wir mit Arnsberg Bades, wo wir auf
die heutige politische Lage zu sprechen kamen und unserem vernichtenden
Urteil über den Führer keinerlei Zwang auflegten. Darauf
stampften wie auf Kommando Frau Bade u. Tochter sowie 2 Freundinnen
der beiden die Füße auf und verschwanden ostentativ aus dem
Zimmer. Sie sind wirklich wie von Blindheit geschlagen oder – saudumm!
Unsere Äußerungen entsprachen nur den Ansichten, die man
jetzt mit der größten Offenheit beim Anstehen auf Brot etc. dauernd
zu hören bekommt.
Eine grenzenlose Wut hat das Volk erfasst, das
jetzt den Irrsinn ausbaden muss. Unser Vaterland, unsere Kultur, unser
Wohlstand, unser Familienleben wurden durch diesen einen Mann
restlos vernichtet. Was ist uns allen vorgelogen worden!
Auf dem Rückweg gingen wir durch den neuen Garten und besahen
das Marmorpalais, das auch einige Artillerietreffer abbekommen
hatte. Ein Stück abgeschossenen Marmor nahm ich auf, um es der
Prinzessin Wilhelm bei Gelegenheit zu geben.
Im Hause herrscht große Freude. Der Schwiegersohn von Wolters
unten im Souterrain war an der Front desertiert u. fiel hier den
Russen in die Hände. Er wurde von ihnen wegen seines mannhaften
Verhaltens sofort freigelassen!
Aus dem Tresor der Deutschen Bank sollen an den beiden letzten
Tagen Wagenladungen von Koffern, Kisten, Silberkästen etc., die
dort zur »Sicherheit« deponiert waren, fortgeschafft worden sein. Wir
zittern um unseren Silberkasten für 24 Personen, den ich 1911 von
meiner Großmutter Henschel zur Hochzeit erhielt, ferner um einen
Koffer mit Silber u. Wäsche.

6.5.
Seit heute gibt es wieder Wasser aus der Leitung! Die Frauenschaftsführerin
Jahn von Potsdam hat sich das Leben genommen, der
Kreisleiter u. der Propagandaredner Direktor Schröder von der Wilh.-
Frick-Schule sind natürlich rechtzeitig getürmt! Hoffentlich folgt man
ihren Spuren.

7.5.
Nachdem ich mit Anneli von 8 bis 10 ¼ nach Marken für Brot
angestanden hatte, gab ich schweren Herzens im Werner-Alfred-Bad
unser großes Radio ab, das ich in der 1. Etage niederlegen musste, wenigstens
nicht im Freien, wo Tausende von Apparaten standen, natürlich
verregnet!