Steinmeier zum 8. Mai: Erinnern ist keine Last

(Lesezeit 4 Minuten) Philipp, unser Ältester, und ich schreiben uns in diesem Jahr 2020 ein über den anderen Tag einen Brief. Natürlich handeln sie von der Familie, der Politik, und in diesem Jahr geht es (leider) regelmäßig Corona. Zum 8. Mai aber hielt 75 Jahre nach der deutschen Kapitulation und Befreiung Bundespräsident Steinmeier ein Rede, die uns inspiriert hat, so dass wir auch über sie schrieben. Hier meine Gedanken zu dieser glänzenden Rede:

Lieber Philipp!
Du hast das Thema schon aufgegriffen; aber ich möchte auch auf die Rede von BP Steinmeier gestern zum 75. Jahrestag der Befreiung vom NS-Staat zurückkommen. Mir scheint sie ähnlich wichtig zu sein wie die Rede von Weizsäcker 1985. Zum einen setzt sie bei jenem Satz von RvW an: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“ Das war damals eine mutige Behauptung; das Gefühl der Niederlage und der Beraubung von Ostpreußen und Schlesien herrschte eindeutig vor. Zum anderen aber ist das leider auch heute wieder in wachsenden Teilen der Gesellschaft so. AfD-Chef Gauland bedauert in diesem Zusammenhang, dass das Deutsche Reich 1945 „seine Gestaltungsmöglichkeit“ verloren habe. Das kann eigentlich nur heißen, dass Deutschland besser weiter Europa mit seinem Krieg verheert, Juden vergast und sein Unrechtsregime hätte ausbauen sollen. Ist es das, was dieser unsägliche Gauland im Sinn hat?
In diesem Zusammenhang fällt mir auch AfD-Höcke ein, der da meint, nach dem Zweiten Weltkrieg hätten die Sieger in systematischer Umerziehung versucht, „die deutschen Wurzeln zu roden.“ Die Geschichte des Landes werde seither „mies und lächerlich gemacht“. Die Stelen für die ermordeten Juden in Berlin seien ein Denkmal „der Schande“. Erst wenn endlich Schluss mit dem Erinnern sei, könne Deutschland zu alter Größe zurückkehren und wieder stark werden, ist wohl das Resümee dieses Idioten. Tatsächlich aber ist heute Deutschland so stark, gerade weil wir es geschafft haben, die „gebrochene Geschichte“ ernst zu nehmen. Steinmeier sagt darum: „Nur weil wir Deutsche unserer Geschichte ins Auge sehen, weil wir die historische Verantwortung annehmen, haben die Völker der Welt unserem Land neues Vertrauen geschenkt… Darin liegt ein aufgeklärter, demokratischer Patriotismus. Es gibt keinen deutschen Patriotismus ohne Brüche, ohne den Blick auf Licht und Schatten, ohne Freude und Trauer, ohne Dankbarkeit und Scham.“ Wer – wie Höcke – für einen „Schlussstrich“ eintrete, der versuche nicht nur Katastrophen von Krieg und NS Diktatur zu verdrängen. „Der entwertet auch all das Gute, das wir seither errungen haben“; der verleugne auch den Wesenskern unserer Demokratie, „wonach die Würde des Menschen unantastbar ist“.
Während Höcke sich also wie ein feiger Waschlappen aus der deutschen Geschichte verdrücken will, sind diejenigen eben die Starken, die an Auschwitz, Krieg und Diktatur erinnern. „Nicht das Erinnern ist eine Last – Nichterinnern wird zur Last. Nicht das Bekenntnis zur Verantwortung ist eine Schande – das Leugnen ist eine Schande,“ sagt Steinmeier.
Aus Israel erzähle ich dazu gerne, dass sich für mich bei der ersten Begegnung mit einem Schoah-Überlebenden meist der Mut auszahlte, sofort nach der persönlichen Vergangenheit seiner Familie zu fragen. Gemeinhin beginnen Gespräche mit Smalltalk; die direkte Anknüpfung an die deutsch-jüdische Geschichte aber brachte mich in der Regel sofort zu ernsthaften und eben fruchtbaren Gesprächen. In Erinnerung ist mir ein Mittagessen bei Professor Yehuda Blum (Völkerrechtler und einst Israels Un-Botschafter), von dem Du wohl auch noch eine blasse Erinnerung hast. Wir trafen dort eines Sabbats nach dem Kiddusch eine amerikanisch-jüdische Familie zum Mittagessen. Neben mir saß so ein Studentensohn, der mir eröffnete, er habe noch nie neben einem Deutschen gesessen und auch noch mit so einem gegessen. In seiner Familie habe man nicht einmal Küchenmaschinen aus Deutschland. Ich äußerte dafür Verständnis und fragte ihn nach seiner familiären Verbindung zur Shoah. Da kam ziemlich wenig. Es stellte sich heraus, dass die antideutsche Haltung vieler Juden in Amerika – ohne einen direkten familiären Bezug zur Shoah – gerne zur jüdischen Identität gehört. Wir machten das zum Thema, weil ich ihm doch erzählen konnte, dass wir öfter bei Blums seien, dass wir jüdisch-italienische Freunde hätten. Überhaupt, meine Frau sei Rechtsanwältin vieler Klienten aus deutschen-jüdischen Familien. Später habe ich gelesen, dass die antideutsche Haltung bei Juden in Amerika stärker sei als in Israel, weil ihre Familien so die Entscheidung sublimieren, nicht für das harte Leben im jüdischen Staat Israel optiert sondern für das Land der unbegrenzten Möglichkeit gestimmt zu haben.
Bei dem Gespräch mit dem amerikanischen Studenten kam ich mir jedenfalls wie ein Sieger vor; wir schieden in Hochachtung voreinander. Zu diesem Gefühl möchte ich auch Deine Generation einladen; ganz im Sinne dieser wunderbaren Rede von Steinmeier. Wenn wir uns nicht „höckisch“ vor der Last der deutschen Vergangenheit verkriechen sondern sie an ihren Hörnern packen, dann sind wir besonders stark. Denn wir können ein schweres Pfund mehr in unsere Verantwortung für ein freies und demokratisches Europa einbringen. Wir haben als Deutsche eine tiefere Einsicht für den Kampf gegen Misstrauen, Abschottung und Feindseligkeiten zwischen Nationen! Wir können mit unseren eigenen grauenerregenden Erfahrungen argumentieren. Das ist eine Stärke.”