(Lesezeit 2 Min/Auszug aus “Rom und Jerusalem – weder ewig noch heilig”)
Mehr als zwei Jahre lang hatte das Bettlerpärchen vor der Kirche Sant‘Andrea della Valle am Corso Vittorio Emanuele II. mitten in der Altstadt von Rom „gewohnt“. Dann wurde selbst ihnen das Zentrum der Stadt zu laut und schmutzig – und sie zogen um. Steht es nicht schlecht um eine Stadt, wenn sogar Bettler aus ihr fliehen? Dabei hatten es sich diese zwei so bequem gemacht: Kartons, Plastiktüten, Decken und ihr sonstiges Eigen hatten sie neben dem Haupteingang der Kirche wie auf immer angeordnet und es sich wohnlich gemacht. Wenn gegessen wurde, legten sie Servietten auf den Schoß. Bisweilen wurden Blumen in einer Vase aufgestellt. Obwohl sich nur einer der zwei in der Nacht auf dem Vorsprung neben der Kirchentür lang ausstrecken konnte, während der andere sitzen bleiben musste und den Kopf des Partners auf seinem Schoß barg, vermittelte diese traute Zweisamkeit ein Bild von Stabilität und Frieden. Vom einen zum anderen Tag aber reichte es: „Es ist hier zu laut und zu schmutzig; in den Nächten kommt man auch wegen der vielen Touristen nicht mehr zur Ruhe“.
Das klingt schon seltsam. Immerhin liegt Sant’Andrea nun einmal an diesem belebten Corso, einem der Hauptachsen durchs Marsfeld. Die beiden Bettler hatte hier nie eine Wand vor dem Verkehr geschützt, und der lässt auch in der Nacht mit ihren Bussen, Taxen und Mopeds kaum nach. Am Corso ist es darum immer stinkig und laut gewesen, so dass mir vor Jahren schon eine Principessa aus dem Fürstenhause der Massimo im nahen Palast der Familie gestand, sie werde ihr Elternhaus nun doch verlassen. Der Corso sei unerträglich geworden. Das war ein Schnitt; seit etwa 500 Jahren wohnen Massimos in dem „Palast mit den Säulen“. Da zieht man nicht so einfach aus, auch wenn man bei einer großen Maklerfirma arbeitet. Für andere unmerklich hatte offenbar der Verkehr wieder einmal zugenommen, und so ist die Innenstadt noch ein wenig unerträglicher geworden. Zudem nahm in den letzten Jahren – vor Covid – die Zahl der Touristen so stark zu, dass auch sie als störend empfunden werden. Und selbst nachts waren zumindest diese Bettler vor ihnen nicht sicher. „Junge Leute grölen, und dann pinkeln sie auch noch an die Hausecke gegenüber“. Auch ich habe schon trunkene Männer in dunklen Ecken gesehen, die ihr Bier loswerden wollen. Bisweilen auch kotzend – kein annehmbarer Anblick für ordentliche Bettler.
Diese Bettler waren ein eigenartiges Paar: Beide stammen aus Italiens Norden. Maria hatte bei der Stadtverwaltung in Turin einen festen Arbeitsplatz gehabt, was in Italien schon etwas Besonderes ist. Dann zerbrach die Ehe, es hielt sie nichts mehr im Norden, und so ging sie auf Pilgerschaft nach Rom. „Sie habe damals noch an Gott geglaubt,“ hieß es. Auf dem Weg traf sie den fast eine Generation jüngeren Francesco. Der war nach seiner Scheidung obdachlos geworden, weil ihn ein Gericht aus der Wohnung von Frau und Kind geworfen hatte. Da war auch er aus dem bürgerlichen Leben ausgebrochen und hatte sich „ganz allein“ auf den Weg gemacht, bis Maria zu seinem Glück auf dem Weg wurde. Ob sie seither so etwas wie „Mutter und Kind“ spielen oder gar zu einem Paar geworden sind, das haben wir in der Nachbarschaft nicht herausgefunden. Wohl aber ließ sich erkennen, wie liebevoll sie miteinander umgingen. Maria kämmte Francesco die langen Haare, oder war es ein Lausen? Gelegentlich las sie ihm aus Zeitungen oder Büchern vor. Er trug, ganz Kavalier, beide Tüten, wenn sie ihre Besorgungen gemacht hatten. Bisweilen gab es vor aller Augen auf der Straße einen Kuss.
In der – mittlerweile eingestellten – Valle-Bar gegenüber der Kirche erhielten Maria und Francesco am frühen Morgen in der Regel gratis ihre Cappuccini und Cornetti. An heißen Tagen später am Tage auch noch ein Glas Wasser. Händler in den benachbarten Geschäften schenkten den beiden Esswaren. Einmal soll Maria dabei wählerisch gesagt haben: „Herzlichen Dank, aber das brauchen wir nicht. Mein Francesco mag das nicht.“ Regelmäßig ging das Pärchen in eine kirchliche Einrichtung, um sich zu duschen. Freilich „nicht häufig genug“, wie mir neulich noch eine Nachbarin sagte, die den beiden bisweilen abgelegte Kleidung brachte. Die beiden gingen in der Tat etwas lumpig und ungepflegt herum. „Sie hätten sich auch besser anziehen können. Aber vielleicht passten unsere Sachen doch nicht“, lautete der Kommentar der Nachbarin. Wie auch immer: Maria und Francesco gehörten allmählich in unser Viertel und waren angenehme Nachbarn. Sie drängten sich den Menschen nie auf, bettelten sich weder an der Straße noch bei den Bars von Tisch zu Tisch durch. Sie blieben diskret und zeigten in ihrer gewählten Lebensweise Würde. Nun zogen sie in dem Vernehmen nach in eine päpstliche Einrichtung an Roms Stadtrand. (jöb)